START. Es geht los. Eher gemächlich setzt sich die Schlange in Bewegung. Ich spüre schnell, wie die Isolierschicht meiner Handschuhe so langsam gegen den kalten Fahrtwind verliert. Ein Gefühl der Unsicherheit haben wir wohl alle noch im Magen: Was mag uns wohl alles erwarten auf den nächsten 600 km?

Nach dem Start wird es zum Glück von Minute zu Minute etwas heller ... und auch die Temperatur steigt ganz langsam an. Auf den ersten Kilometern komme ich mir irgendwie dauernd vor wie auf einem Siedlertreck im amerikanischen Westen eines kitschigen Films der 50er Jahre ... man durchfährt eher eine Steppenlandschaft mit abgestorbenen Bäumen, die sich erst ganz langsam zu der erwarteten Wüstenlandschaft entwickelt.

Der Wind kommt von vorn. Das Feld erreicht kaum Geschwindigkeit. Wir bewegen uns hier zwischen 1000 und 1300 m über NN. In der kalten Luft ist einem da überhaupt nicht zum Schnellfahren. Als ich mich nach einiger Zeit hinten im Feld einreihe, bemerke ich auf einmal das Auftauchen gefährlicher Ausbrüche in der Fahrbahndecke sowie das Herumliegen vieler Steine. Das Feld ist noch nicht so eingespielt, dass das mit den Warnungen klappt. Wir Hinteren vesuchen, so gut es geht den Löchern auszuweichen. Auf einmal höre ich einen Knall von meinem Hinterrad kommend und merke sofort, wie ich schnell Luft verliere. Muß irgendein unvorteilhaftes Steinchen erwischt haben ... . Ich halte und reiße den Reifen vom Rad - sowohl der Schlauch als auch die nagelneue Decke sind durchgeschlagen! Wolfgang und Holger haben mit gehalten und unterstützen. Holger hat glücklicherweise eine gefaltete Ersatzdecke dabei, die er mir gibt - das ist sicherer als irgendwelche Improvisationen mit dem Unterlegen von anderen Teilen. Schnell wird alles wieder zusammengebaut und weiter geht es. Das Feld hat glücklicherweise 500 m weiter am Verpflegungs-LKW gehalten und isst Bananen und Reiskekse. Nett!

Bei 120 km - die Temperatur ist inzwischen sehr schön zum Radfahren - hält wieder der Verpflegungs-LKW. Es gibt warme "Einweg"-Nudelsuppe. Ungewohnt, so etwas - 12 Uhr mittags in der Wüste - doch die warme, flüssige Kohlenhydat-Portion mit einigem Salzgehalt tut dem Körper irgendwie gut. Im Windschatten in der Sonne ist es zwar schon ziemlich warm, sobald man sich jedoch in den Wind stellt, sieht das aber schon wieder anders aus. Die Beinlinge kann man ruhig noch anbehalten.

Schließlich geht es weiter. Fünf Kilometer später merke ich beim Umschauen, dass das Feld 200 m hinter mir ist. Also: Kurz die Beine hängen lassen , etwas langsamer treten, von Zeit zu Zeit umdrehen ... . Das Feld kommt kaum näher. Auf einmal überholt mich ein LKW. Es ist ein ziemlich betagtes Fahrzeug, das auch nicht besonders schnell ist. Der Beifahrer hängt sich aus dem Fenster, feuert mich an, und winkt. Aus Spaß trete ich auch ein wenig kräftiger ins Pedal - 38 , 40, 45, 48 - auf einmal geht das hier! - Ich fahre dem LKW kurz weg, will mich jedoch nicht überanstrengen, lasse die Beine kurz hängen und winke den Truck vorbei. Der verabschiedet sich mit Hupen und Winken. OK. Kurz umdrehen, um zu sehen, was das Feld macht - hey! Wo ist das Feld? Nur ein paar bunte Punkte sind am Horizot auf der Straße zu entdecken. Was nun? - Zum Ausreißen ist es doch viel zu früh - schon wegen des Gegenwinds. So ganz allein stellt man hier plötzlich fest, wie eindrucksvoll doch eigentlich die Landschaft hier ist - mit der sich vorne links auftuenden großen Sanddünenkette und den laufend zu beobachtenden Veränderungen in der Landschaft. Ich beschließe, einfach normal weiterzufahren - bis zum nächsten Verpflegungshalt.

Es fährt sich fantastisch, so ganz allein. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass die Wüstenlandschaft spätestens nach einer halben Stunde stinklangweilig wird, aber das ist überhaupt nicht der Fall. Zum Einen ändert sich das Landschaftsbild immer noch laufend - zum Anderen hat man auch häufig Blickkontakt zu Einheimischen unterschieldichster Art - LKW-Fahrer, Nobel-Van-Fahrer, Windschutzpflanzen-Setzer am Straßenrand (so eine Art chinesischer Landschaftsbauer). Nein - langweilig wird es wirklich nicht. Man befindet sich laufend in einem Zustand gehobener Aufmerksamkeit, lightyears away from home. Das Fahrbahnprofil ändert sich ein wenig. Es wird hügeliger, doch kleine Anstiege bedeuten kaum einen Geschwindigkeitsabfall. Und von dem Gegenwind ist kaum noch etwas zu spüren. Hupende LKW-Fahrer und winkende Personen am Straßenrand beflügeln einen und erhöhen den Schnitt - so ähnlich wie bei den HEW-Cyclassics, bloß dass natürlich die Anzahl der Starter und Zuschauer etwas anders ist - aber den psychologischen Effekt kann man spüren.

Nach 40 km kommt ein Begleitfahrzeug von hinten heran. Wir machen einen kurzen Verpflegungshalt. Ich brauche eigentlich überhaupt nichts, will hauptsächlich fragen, wo denn die anderen bleiben. "Oh, you are so fast!" sagt David, der Senior-Organisator - "They must be 10 kilometers behind you". 10 km? So lange warten? Das wäre überhaupt nicht schön. Ich nehme mir bloß einen Apfel und beschließe, einfach normal weiterzufahren - mal sehen, wie sich ein Jens Voigt so fühlt, wenn er fünf km vor dem Ziel wieder gestellt wird. Außerdem - irgend jemand hat vor dem Start gesagt, die Etappe habe nur 260 km, da wir ja von Luntai aus erst ein Stück mit dem Bus zum Start gefahren worden sind - das bedeutet, dass bloß noch etwa 100 km zu fahren sind - eigentlich eine Kleinigkeit! Die Landschaft bleibt hügelig und der Wind hält sich in Grenzen. Die Geschindigkeit fällt auch an Anstiegen kaum unter 30 km/h, so dass hier augenblicklich bestimmt ein 35er Schnitt gefahren wird.

Einige Zeit später überholt mich wieder David mit einem der Begleitfahrzeuge "How far to go - 60 km?" rufe ich ihm durchs geöffnete Fenster entgegen. - "80 km left" ruft er zurück. 80 km? Das irritiert mich ein wenig. Nach meinen Annahmen müßte ich schon näher am Ziel sein. Kurz darauf wird der Gegenwind wieder stärker. Das geht so weit, dass ich mir unsicher werde, ob ich alleine ankommen werde. Einige Hügel tauchen auch noch auf. Die Anstiege sind jedoch gar nicht so ein Problem, da sie einen vorm Gegenwind schützen. Nach einer Stunde treffe ich noch einmal David. Unsere "Reststrecken"-Einschätzungen weichen jetzt schon 30 km voneinander ab. Das nimmt einem ein wenig die Selbstsicherheit. Ab ca. 18:00 fängt es langsam an, zu dämmern. Plötzlich taucht vor mir eine Fahrbahn-Gabelung auf! Was nun? "Man kann sich nicht verfahren - es gibt nur eine Straße!" hat es geheißen. Beide Straßen haben die gleiche Breite und den selben Ausbaustand. Große Hinweisschilder weisen den Weg - sogar zweisprachig. Toll! Leider kann ich weder chinesiche noch arabische Schriftzeichen lesen, halte an und werde so langsam nervös. Also beschließe ich, darauf zu achten, auf welcher Straße das höhere Verkehrsaufkommen herrscht - doch ausgerechnet jetzt ist minutenlang kein einziges Fahrzeug zu sehen. Schließlich entscheide ich, ganz einfach die Straße zu nehmen, welche am ehesten in die gleiche Richtung zeigt wie die Straße, auf der ich gekommen bin. Nach zehn Minuten tauchen wieder Fahrzeuge auf - das wirkt ein wenig beruhigend. Wieder etwas später - es ist bereits dunkel - überholt mich erneut David - "Only ten kilometers to go! - The doctor is waiting for you under the gate - The others are far behind! Very far!". Erleichtert fahre ich weiter. Jetzt kann nicht mehr viel schiefgehen. Man muß bloß noch aufpassen, dass man bei der spärlichen Batterielampen-Beleuchtung nicht auf den letzten Metern noch in irgendein Schlagloch fährt. Schließlich taucht ein kleiner Lichtkegel auf, als ich über einen Hügel komme - das muß Tazhong sein - das Etappenziel. Ich fahre im Dunkeln weiter, nach einem Torbogen Ausschau haltend,von dem mir David noch etwas zugerufen hat, als ich plötzlich aus der Finsternis meinen Namen gerufen höre - Es ist der betreuende Arzt, der mich zu einer Gaststätte am Rand lotst, wo es noch ein Abendessen geben soll.

In einer kleinen Gaststube halte ich mich dann erst einmal auf. Sofort kommt jemand von der Bewirtung und gießt mir ein Glas Tee ein. Etwas warmes ist jetzt nicht verkehrt. Nun beginnt die Zeit des Wartens. Die Einheimischen schauen sich draußen mein Rad an - ein klein wenig exotisch wirkt so ein Rennrad in der Wüste ja schon.

Nach einer dreiviertel Stunde trifft dann Joachim Rintsch als zweiter ein. Auch allein. Vom Feld keine Spur - das rollt dann erst nach weiteren 50 min. an. In der Gaststätte gibt es dann das gewohnt reichhaltige chinesische Abendessen. Schließlich übernachten wir dann in einem anderen Block, in welchem sonst wohl LKW-Fahrer auf der Durchreise ausruhen.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück geht es dann weiter. Wir starten eine halbe Stunde später als am Vortag, weil es dann nicht mehr so dunkel ist. Ich kann meine Radbrille nicht finden. Die muß ich in der Nacht irgendwo verloren haben. Weil man bei dem kalten Wind ohne Brille aber nicht auskommt, setzte ich meine Schwimmbrille auf, die ich mitgebracht habe, um gegen mittlere Sandstürme gewappnet zu sein. Mit so einer Schwimmbrille hat man irgendwie einen Tunnelblick. und fühlt sich sehr unsicher beim Fahren in der Gruppe. Also gehe ich wieder nach vorne und trete ein wenig zu, um ein wenig warm zu werden, woraufhin ich nach kurzer Zeit schon wieder allein fahre. Ich habe nicht vor, die zweite Etappe auch wieder vorneweg zu fahren, bleibe jedoch erst einmal in dieser Position, weil ich bei der kalten Luft nicht auf die Schwimmbrille verzichten möchte, es mit einer solchen bei Gruppenfahrten jedoch leicht zu Unfällen kommen kann. Es wird wieder schön hügelig. Der Wind ist eher stärker als am Vortag, kommt jedoch nicht direkt von vorn, sondern eher so aus 14 Uhr. Als ich an einer Haltebucht vorbei fahre, merke ich auf einmal, dass am Boden mehrere metallische Teile herumliegen. Im gleichen Moment spüre ich, wie mein Hinterrad über irgend etwas hinwegrollt, wahrscheinlich über den Gewinderest einer Radschraube. Nach einigen Metern fühle ich, wie ich langsam Luft verliere - der zweite Platten! Schnell halte ich, um den noch in meiner Tasche befindlichen Ersatzschlauch zu montieren. Am nächsten Verpflegungsstand nach 10 km warte ich dann auf die Gruppe. Joachim, der tagsüber mit getönter Sonnenbrille fährt, bietet mir an, seine klarsichtige "Nachtbrille" zu benutzen, was ich gern annehme. Mit Herman und Joachim fahre ich dann in einer Dreiergruppe weiter. Wir beginnen zu kreiseln, was bei dem jetzt schon mehr von der Seite kommenden Wind angebracht ist und ein zügiges Fortkommen bewirkt. Man kreiselt hier nicht permanent. Am Straßenrand gibt es alle 1000 m einen Kilometerstein, welcher für alle gut als Signal für einen Führungswechsel zu erkennen ist. Nach dem nächsten Stop fahre ich mit Joachim allein weiter, weil Hermann noch eine Suppe essen und auf die anderen warten möchte. Friedhelm Lixenfeld, der die Pause ausläßt, stößt zu uns und fährt ein Stück mit. Friedhelm fährt für sein Alter erstaunlich schnell und kann die Strecke als erfahrener Randonneur notfalls auch ohne Feld fahren.

Bei einer weiteren Verpflegungsstation an einem großen Hügel sagt uns Zhang plötzlich, dass weniger als 100 km zu fahren seien "Kann nicht sein", protestiere ich,"wir haben noch 140 km zu fahren!", nicht nur meinem Tacho vertrauend, sondern in Gewißheit, die Kilometerangaben an den Steinen am Straßenrand geprüft zu haben. Wie dem auch sei ... einfach weiter. Es bleibt hügelig. Der Wind läßt wieder nach. Wir fahren ziemlich schnell. Auf einmal verändert sich das Fahrbahnprofil. Es tauchen auch zunehmend Eselskarren, die von uigurischen Ureinwohnern gelenkt werden, auf der Straße auf. Das Begleitfahrzeug überholt uns wieder. Es sollen nur noch 20 km bis zum Ziel sein. EGAL. Ich nehme das zur Kenntnis. Auf einmal tauchen zwei Stellen auf, an denen die Fahrbahndecke für jeweils 50 m aufgebrochen und mit Schotter angefüllt ist. Das sieht so gefährlich aus, dass wir absteigen und schieben. Die Straße bekommt nun vereinzelt Bodenwellen und Huckel, auf die man sich beim Fahren besser konzentriert. Auch die Landschaft hat sich stark verändert. Plötzlich gibt es wieder Bäume, und vor Allem stehen überall Ziegen in der Gegend herum. Man merkt, das man die Wüste bald hinter sich gelassen hat und fährt guten Mutes weiter Richtung Süden. Plötzlich kommt das Begleitfahrzeug wieder und jemand gibt zu verstehen, dass gleich das Ziel kommen müsse. Wir nehmen das nicht so ernst, weil es dazu eigentlich noch zu früh ist. Als wir um eine langgezogene Kurve kommen, erkennen wir plötzlich wieder so einen großen Torbogen über der Straße. Beim Näherkommen sehen wir Zhang und Yusuph, den Kameramann mit dem Großen RAT-Banner über der Straße. Wir beschließen, zusammen durchs Ziel zu kommen und vorher noch einen kleinen Show-Sprint hinzulegen.

Geschafft! Die zweite Etappe war im Gegensatz zur Ersten viel kürzer als erwartet. Aber mindestens so schön.